Feldpost im Zweiten Weltkrieg
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Abbildung des Buchumschlages - Schmiedel - Du sollst nicht morden

"Du sollst nicht morden"
Selbstzeugnisse christlicher Wehrmachtssoldaten aus dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion

David Schmiedel

Erscheinungstermin: 17.08.2017
kartoniert
512 Seiten
EAN 9783593506777

Mittlerweile gibt es eine große Anzahl von Literatur über Feldpost. Die meiste davon kann man nicht als wissenschaftlich bezeichnen. Es sind mehr oder minder engagiert gemachte Veröffentlichungen von Briefen aus dem Nachlass eines Verwandten. Seltener sind Publikationen, die diese Nachlässe mit Sachkunde editieren und die Besonderheiten der Biografie des Verfassers herausarbeiten. Noch seltener sind Arbeiten, die über Einzelfälle hinausgehen und in der Lage sind, eine Systematik zu entdecken. Ganz selten sind Arbeiten, die eine übergreifende Thematik aufweisen, und danach Briefe aus verschiedenen Quellen untersuchen.

Um eine dieser ganz seltenen Arbeiten handelt es sich bei David Schmiedels Betrachtungen über das Selbstverständnis von christlichen Wehrmachtsoldaten aus dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Denn es muss für die Soldaten eine mentale Herausforderung sein, wenn sie christlich erzogen sind, christlich denken und handeln wollen. Sie erleben aufgrund dieser Voraussetzungen, dass es beim Krieg gegen die Sowjetunion nicht um eine Auseinandersetzung geht, die durch einen Selbstverteidigungsgedanken gedeckt sein konnte. Es war ein Vernichtungskrieg.

Auch christlichen Soldaten nahmen an den Brutalitäten teil. Ohne ihr Zutun wäre es nicht möglich gewesen. Gut 25 Millionen BürgerInnen der Sowjetunion kamen nach aktuellen Schätzungen ums Leben - und nur ein Bruchteil davon waren reguläre Angehörige der Sowjetarmee. Aus den beiden vollkommen gegensätzlichen Polen, der christlichen Erziehung auf der einen und der komplett entgrenzten Gewalt auf der anderen Seite, leiten sich die grundlegenden Fragen: Wie konnten christlich sozialisierte Menschen, die an einen gütigen und vergebenden Gott glaubten, einen Krieg führen, der ganze Bevölkerungsteile vernichtete und ganze Landstriche verwüstete? Wie konnten die Soldaten ihre Handlungen im Krieg gegen die Sowjetunion mit Gott rechtfertigen? Gab es christliche Motive, die das massenhafte Morden legitimierten? Welche Strategien entwickelten die Soldaten, um ihre Erlebnisse an der Ostfront mit ihrem Bild von Gott zu vereinbaren? Wie gingen sie mit der Gewalt um, die ihnen selbst entgegenschlug? Wie reagierten die sie betreuenden und theologisch gebildeten Feldgeistlichen auf all diese Geschehnisse?

Diese speziellen Fragen wurden bisher unter religionswissenschaftlichen Aspekten noch nicht genauer beleuchtet. Erst mit der historischen und sozialen Debatte über die religiösen Aspekte des Holocaust begann die Auseinandersetzung. Das bevorzugte Gebiet der Beschäftigung betraf zunächst jedoch die makrokosmologische Betrachtung der Religionen in diesen Systemen beziehungsweise die Aufarbeitung der Teilhabe der Religionen daran. Auf die unmittelbar in den totalitären Systemen Handelnden - in besonderem Maße gilt dies für die Verbrechen an der deutschen Ostfront des Zweiten Weltkrieges - hat die Religionswissenschaft bisher jedoch kaum oder nur randständig geblickt.

David Schmiedel nimmt sich vor, diese Forschungslücke zu schließen. Um zu verstehen, was die Betroffenen damals gedacht und empfunden haben, verbieten sich Interviews. Die Erinnerung derer, die den Ausgang der Geschichte kennen, ist vom nachträglichen Wissen beeinflusst und somit für eine solche Frage unbrauchbar. Hier greift Schmiedel - neben Berichten der Seelsorger im Felde - zu einer Quelle, die unter dem Eindruck der Ereignisse verfasst sind, nämlich die Feldpostbriefe an die Verwandten und Bekannten zuhause. Denen öffnen sich die Soldaten an der Front bisweilen. Feldpost hat nicht nur die Aufgabe der Informationsübermittlung, sie dient auch der auf Papier fixierten Reflektion. Diese zu extrahieren zwischen dem Beruhigen der Verwandten und einem authentischen Bericht, zwischen innerer und äußerer Zensur und zwischen der Sprache unter Kameraden und der mit den Menschen in der Heimat, kann nur mit großem Einfühlungsvermögen und interpretatorischer Distanz geschehen.

Das Buch "Du sollst nicht morden" setzt das sechste Gebot ins Zentrum der Auseinandersetzung. Wie können christliche Soldaten diese Forderung erfüllen, wenn sie gleichzeitig einem System folgen, das genau dieses Gebot ignoriert. Die Antworten sind vielfältig. Sie gehen von innerer Zerrissenheit bis zur Bearbeitung durch kognitive Dissonanz und der Verdrängung des Widerspruchs. Das Buch, das auf der Dissertation von David Schmiedel beruht, ist eine fundierte Auseinandersetzung. Er reflektiert nicht nur das Zustandekommen der schriftlichen Zeugnisse, sondern auch die Sammlungen der Briefe. Er besuchte alle wichtigen Archive und fand dort umfangreiche Beispiele für die unterschiedlichen Zugänge. So gelingt eine Arbeit, die einen Einblick in die Mentalität von christlichen Wehrmachtsangehörigen gibt. Der größte Teil des Buches befasst sich mit den empirischen Befunden. Dabei werden die unterschiedlichen Haltungen in Bezug auf das soldatische und christliche Handeln durch umfangreiche Zitate aus den Dokumenten dargelegt und diskutiert. Dicht an den Quellen können die Leser sowohl den Schreibern folgen als auch die Argumentation Schmiedels nachvollziehen. Die Interpretation des Gottesbildes ist breit und jeweils sujektiv angelegt: Der vergeltende allmächtige Gott kommt dabei ebenso vor wie das Bild des vergehenden Gottes. Immer wieder sind es Projektionen der Ängste und Hoffnungen durch die christlichen Soldaten, sie sich in ihren Briefen manifestieren. Die Vorstellung an ein jeweils spezifisches Gottesbild hilft, das Selbstbild in einer aus den Fugen geratenen Zeit aufrecht zu halten. Rechtfertigungen sowohl des eigenen Glaubens als auch der nationalsozialistischen Ideologie, die sich widersprüchlich entgegenstehen, müssen durch das Individuum vermittelt werden.

Zwei grundlegende Haltungen sind in der Untersuchung zu identifizieren: Die der Verschmelzung von Ideologie und Glaube sowie eine Abgrenzung von der Ideologie bis hin zu einem inneren und äußeren Rückzug. Bei der Verschmelzung gelingt eine Entmenschlichung des Gegners - insbesondere der Sowjetbürger und Juden - und damit eine Rechtfertigung für dessen Vernichtung. Es gelingt einigen, dies in Einklang mit Gottes Willen zu bringen. Beim Rückzug nach innen trennt der Soldat zwischen Handeln und Glauben und kann so beides nebeneinander bestehen lassen ohne in Konflikt zu geraten.

David Schmiedel gelingt eine Arbeit, die man als grundlegend bezeichnen kann. Er dringt ein in die Tiefe der Psyche dieser Männer und kann nachvollziehen, wie und warum sie handeln. Die Arbeit zeigt generell, wie man mit der Quelle Feldpost umgehen kann und welch wertvolle Erkenntnisse daraus zu ziehen sind. - Man muss sich nur die Mühe machen, sie zu lesen.