Feldpost im Zweiten Weltkrieg
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buchpräsentation Podium bei der Buchvorstellung im Museum für Kommunikation am 27. Februar 2008. V.l.n.r: Dr. Veit Didczuneit (Sammlungsleiter am Museum für Kommuniaktion), Dr. Wolfgang Weist (Verleger, Trafo Verlag), Dr. Jens Ebert (Herausgeber)

Jens Ebert

"Im Funkwagen der Wehrmacht durch Europa"

Einführungsvortrag zur Buchpremiere am 27. Februar 2008 im Museum für Kommunikation Berlin

Bis in die Gegenwart tauchen immer wieder erstaunlicherweise noch völlig unbekannte oder das letzte Mal vor vielen Jahrzehnten gelesene Feldpostbriefe und autobiographische Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg auf und finden ihren weg in die eine oder andere Publikationsform. Das Interesse an Feldpost nimmt, je weiter die historischen Ereignisse zurückliegen offenbar jedenfalls nicht ab, sondern eher zu. Das mag auch daran liegen, dass die direkte Kommunikation zwischen den Generationen kaum mehr möglich ist. Es gibt immer weniger Zeitzeugen. Das ist zum einen natürlich bedauerlich, doch es erleichtert zum anderen auch einen von persönlichen Erfahrungen unabhängigen Blick auf den Krieg, der vielleicht neue Fragen aufwirft oder zu neuen Antworten führt. Wir haben es aktuell mit einen Generationenübergang zu tun. Die ältere Generation ist bemüht die Geschichte ihrer Vorgängergeneration gleichsam abzuschließen und die jüngere Generation, zumeist die Enkel, findet in den Feldpostbriefen Informationen über Ihre Großväter, seltener über die Großmütter, die sie so noch nicht kannten. Feldpostbriefe haben eine eigene Faszinationsgeschichte, stehen sie doch an einem Schnittpunkt von sehr persönlichen und privaten Erlebnissen und Erfahrungen mit weltgeschichtlichen Ereignissen und Entwicklungen.

Buchcover Im Funkwagen der Wehrmacht durch Europa

Ebert, Jens (Hrsg.: Im Funkwagen der Wehrmacht durch Europa: Balkan, Ukraine, Stalingrad. Feldpostbriefe des Gefreiten Wilhelm Moldenhauer 1940–1943, trafo verlag 2008, 286 S. zahlr. Abb., Fotos und Karten, ISBN 978-3-89626-749-8

Interessant ist auch, wie sich zunehmend Authentisches und Fiktionales vermischen, wie sogar das Authentische die Fiktion überholt. Ich möchte in diesem Zusammenhang den Erzähler Alfred Andersch nennen, einen Erzähler, den ich sehr mag - nicht nur, weil er ein Deserteur im Zweiten Weltkrieg war. Mit Spannung las ich vor vielen Jahren seine Erzählung "Die Kirschen der Freiheit" und unlängst wurde im Feldpostarchiv des Museums für Kommunikation ein Konvolut von Feldpostbriefen entdeckt, das fast die gleiche Geschichte erzählt, wie der Text von Andersch. Eine weitere Geschichte hat mich fasziniert "Weltreise auf deutsche Art". Der Titel suggeriert ein touristisches Abenteuer, doch es ist tiefe Ironie. Denn die "Reise" des Protagonisten, Johann Benedikt Zimmermann, die ihn immerhin nach China führen wird, beginnt, als er 1899 den Gestellungsbefehl des Deutschen Kaiserreiches bekommt, zur Teilnahme an der Niederschlagung des so genannten Boxeraufstandes. Die Geschichte endet, als Zimmermann 1914 den zweiten Gestellungsbefehl seines Lebens bekommt. Weltreise auf deutsche Art war für mich, als ich die Geschichte vor mehr als 20 Jahren das erste Mal las, natürlich eine ironische Metapher. Sie wurde allerdings immer weniger metaphorisch je mehr ich mich mit der Alltagsgeschichte des Zweiten Weltkrieges beschäftigte. Ganz real und pur allerdings ist der Titel der Erzählung von Andersch zu nehmen, liest man die Feldpostbriefe von Wilhelm Moldenhauer.

Im Sommer 1940 kommt der Krieg auch ins Haus der Familie Moldenhauer, die im 2000-Seelen-Dorf Nordstemmen, südlich von Hannover lebt. Familienvorstand Wilhelm Moldenhauer erhält seinen Gestellungsbefehl. Die Einberufung scheint ihn nicht sonderlich zu verärgern oder gar zu ängstigen. Im Gegenteil, er ist freudig erregt und gespannt, was ihn alles an Neuem, Unerwartetem und Aufregendem erwartet. Das ungewohnte und eher unbequeme Kasernenleben, die Trennung von der Familie nimmt er klaglos, ja erwartungsfreudig hin. Denn es ist für ihn und viele eine "heroische Zeit": am 22. Juni, also eine Woche nachdem Moldenhauer die Wehrmachtsuniform angezogen hat, kapituliert Frankreich. Mit Spannung wartet Moldenhauer in Hannover auf die Bewährung im Krieg. Seine Erwartungshaltung, die aus den Briefen spricht, erinnert beinahe an die Vorfreude eines Jugendlichen auf einen Abenteuerurlaub, an Pfadfindergeist. Zunächst jedoch wird die Einheit nach Kattowitz verlegt. Hier kommt Moldenhauer erstmals in eine Gegend, die z. T. von einer fremden Kultur geprägt ist. Die Stadt war bis zum ersten Weltkrieg ein wichtiger preußischer Industriestandort. 1922 verfügten die Siegermächte jedoch ihre Angliederung an den neu entstandenen polnischen Staat. Nach der polnischen Niederlage 1939 wurde die Stadt wieder dem Deutschen Reich zugeschlagen, also kein Teil des "Generalgouvernements". Hier ist auch 1940 das Leben wie im Frieden - zumindest in der Wahrnehmung der deutschen Soldaten. Moldenhauer sieht sich in der Stadt um, fotografiert Straßenszenen und Gebäude, geht häufig ins Kino oder in die Restaurants der Stadt zum Essen und hört dabei von der deutschen Bevölkerung einiges über die reale und gefühlte Unterdrückung durch die Polen vor 1939. Die polnischen Einwohner, denen er doch bei seinen Gängen durch die Stadt ständig begegnen muss, spielen kaum eine Rolle in den Briefen. Kattowitz ist schließlich (wieder) eine deutsche Stadt.

Moldenhauer sehnt sich nach Bewährung in einem "richtigen" Einsatz. Am 13. Januar 1941 schließlich ist es soweit. Die Einheit wird auf den Balkan verlegt. Moldenhauer ist zum ersten Mal in seinem Leben im Ausland. Die Fahrt geht über die Tschechoslowakei und Ungarn zunächst nach Rumänien. Das Land hatte unlängst mit dem Deutschen Reich einen Beistandspakt abgeschlossen. Deutsche Truppen rückten als Schutzmacht gegen die Sowjetunion ein. Moldenhauer genießt förmlich, trotz der Reisestrapazen den Einsatz auf dem Balkan. Am 18. Januar 1941 schickt er eine ungarische Postkarte nach Hause:

Herzl. Grüße von unser schönen Reise. Es geht mir ganz vorzüglich. Das Wetter ist hier ganz günstig. Tauwetter. Hier habe ich heute den Käse-Hartmann getroffen. Wir sind schon durch schöne Gegenden gekommen.
Viele liebe Grüße an Euch alle.

Dieser Ton und diese Sichtweise, die an Urlaubsgrüße erinnern, finden sich in den Briefen durchgängig, fast bis zum Schluss. So schreibt er am Tag, als er mit seiner Einheit am Überfall auf die Sowjetunion teilnimmt, wohl nicht nur rückblickend, sondern auch als Erwartung für kommende Zeiten spaßig: "Das Reisebüro hat uns doch prächtig beraten!" Moldenhauer fasst in diesem Satz wichtige Aspekte und Beweggründe einer Faszinationsgeschichte zusammen, die der Krieg eben auch darstellte. Viele Wehrmachtsangehörigen verbinden nicht nur in einer späteren verklärenden Erinnerung angenehme Erlebnisse mit den Eroberungszügen, da sie erstmals fremde Länder, Menschen und Kulturen, noch nie gesehene Tiere, Speisen und Nahrungsmittel kennen lernen. Einkaufen in Pariser Geschäften, Baden in der Ägäis, Flanieren an holländischen Grachten, das Erleben der herben und unberührten Landschaft Norwegens, das Reiten auf Kamelen in der ukrainischen Steppe - davon hatte die Mehrzahl der Deutschen vor 1939 noch nicht einmal geträumt. Dass Moldenhauer mit seiner Frau 1935 eine längere Hochzeitsreise an den Bodensee und in die Alpen unternommen hatte und in den folgenden Jahren des öfteren mit der Familie Skiurlaub im Harz machte, war schon eine Besonderheit in jener Zeit, trotz aller Propaganda von "Kraft durch Freude". Durchaus wohl fühlten sich die Wehrmachtsangehörigen im Ausland, weil der Dienst in den besetzten Ländern, da die Kampfhandlungen zumeist beendet waren, als nicht allzu gefährlich empfunden wurde. Besonders häufig findet sich daher "Urlaubsgrüße" in Feldpostbriefen aus südeuropäischen Ländern oder Frankreich, kaum hingegen in denen von den östlichen Kriegsschauplätzen. Das ist verständlich angesichts des in vielfacher Hinsicht mörderischen Alltags beim "Russlandfeldzug". Moldenhauer formuliert in seinen Briefen positive Erfahrungen und Wahrnehmungen, die von Wehrmachtssoldaten bei der Besetzung und Unterdrückung Europas häufig gemacht wurden. Und so wird dann wiederum das Kriegsbild in der Heimat geprägt. Moldenhauer beschreibt fasziniert die winterlichen Karpaten, pittoreske Szenen auf den Bahnhöfen, wo der Truppentransport Station macht und den Alltag der Familien, die in der Nähe der Quartiere der Funkeinheit leben und mit denen die Soldaten einen schwunghaften Lebensmittelhandel betreiben.

Also nach Beendigung meiner Wäsche habe ich dann noch eine Zeit in der schönen Sonne gesessen und gelesen. Das Wetter ist hier jetzt so, wie bei Euch etwa im März. Wir laufen hier den ganzen Tag in Hausschuhen und ohne Feldbluse umher. Man ist eben hier wie zu Hause!!? Oder sagen wir mal wie in einer Sommerfrische.

Angetan ist der Briefeschreiber ganz besonders vom rumänischen Schwarzmeerhafen Constanta, der mit seinem internationalen Flair, den Schiffen aus vielen Ländern wie jeder größere Hafen auch ein Tor zur Welt ist. Die prekäre soziale und materielle Lage der rumänischen Bevölkerung und der Soldaten bestärkt sein deutsches Selbstbewusstsein und sein Einverständnis mit der Politik des NS-Staates. Wegen des günstigen Wechselkurses nimmt er jede sich bietende Möglichkeit wahr, in der freien Zeit nach dem Dienst in einem Cafe oder Restaurant zu essen und zu trinken.

Die anschließende "Reise" nach Bulgarien bringt wieder neue und aufregende Erfahrungen. Der Kontakt zur Bevölkerung schmeichelt zudem dem Ego des deutschen Landsers. Die Gefahren des Krieges scheinen weit entfernt zu sein.

Wir waren mit dabei!! Die Sondermeldung "Deutsche Truppen marschieren in Bulgarien ein" habt Ihr wohl gehört. Ich bin glücklich, daß ich nicht im Lande als Landesschütze irgendwo hocke und daß ich auch mal soetwas mit erleben kann. Ich wurde als Beifahrer in einem Mercedeswagen kommandiert und habe auch selbst stellenweise gefahren. Es war wie eine Kraft durch Freude Fahrt. Erstaunlich war der fürstliche Empfang. Das Volk jubelte uns zu.

Im Frühjahr, mit den steigenden Temperaturen wird das unbekümmerte Leben sogar noch angenehmer, man hat Zeit für "touristische" Erlebnisse in Bulgarien:

Heute Vormittag hatten wir einen ganz außergewöhnlich schönen Tag. Wir waren nämlich zum Baden. Und zwar etwa 30 km von hier in einem Badeort, wo heiße Quellen sind. Landschaftlich wunderbar schön gelegen. Das Bad selbst sehr schön angelegt. Man zog sich aus in einem Raum wo etliche Chaisen drin standen. Dann gab es einen großen bunten Bademantel und Holzlatschen. Das war schon das erste Gaudi. Das Bad selbst war ungefähr so wie das was wir mal im bayrischen Königsschloß auf der Herreninsel gesehen haben. Nur vielleicht etwas größer. An einer Seite läuft dauernd das schöne saubere heiße Wasser zu. Rings herum sind kleine Becken wo sich jeder erst einer umfangreichen Reinigung unterziehen kann. [...] Badehose ist in diesem Bad auch bei den Eingeborenen, natürlich überflüssig. Anschließend haben wir noch 1 - 2 Stunden auf der Terasse in der heißen Sonne gesessen. Mit Grammophon Musik.

Erste Bilder von kriegsbedingten Zerstörungen und die ersten Toten sieht Moldenhauer nach der Besetzung in Serbien. Die Kampfhandlungen sind allerdings schnell vorüber und nur die leeren Geschäfte, in denen er nichts mehr kaufen kann und das äußerst dürftige Angebot in den Restaurants erinnert ihn an den Krieg. Am 2. Mai 1941 schon wird die Funkereinheit zurück nach Kattowitz verlegt. Auch diese ca. eine Woche dauernde Fahrt beschert den Soldaten wieder eine Reihe schöner Reiseeindrücke. Malerische Landschaften, zu bewundernde Städte, Schlösser und Burgen ziehen an den Fenstern des Militärzuges vorbei, in dessen Abteilen man es sich so gut es geht, gemütlich gemacht hat.

Nun ist es nicht mehr lang bis zum zweiten Einsatz, den Moldenhauer genau so freudig begrüßt. Er nimmt am 22. Juni 1941 teil am Überfall auf die Sowjetunion. Bereits in den ersten Tagen wird sein Ton in den Briefen aber ernster, nur wenig ist von der fröhlichen Stimmung der vergangenen Monate geblieben. Diesmal scheint es kein "Ausflug" zu werden. Welch enorme Verluste der "Rußlandfeldzug" mit sich bringen würde, ja dass dieser Feldzug der Anfang vom Ende des Dritten Reiches darstellte, ermaßen im Sommer 1941 nur die allerwenigsten Deutschen.

Der Russe soll ein toller Gegner sein. Es wurde festgestellt, daß er keine Gefangenen macht. Auch Flieger, die abspringen mußten, sind mit einem Genickschlag aufgefunden. Die Vergeltung ist natürlich groß. Wenn es tatsächlich so ist, wird dieser Kampf ein fürchterliches Morden sein.

Allenthalben sind jetzt in den Dörfern und Städten enorme Zerstörungen zu sehen. Die Vormarschwege sind gesäumt von vielen Toten. Doch schon bald beruhigt sich die Stimmung wieder, da die überraschte Rote Armee nur hinhaltenden Widerstand leistet. Das alltägliche Leben der Soldaten wird trotzdem zunehmend gefährlicher, immer öfter gibt es Verluste. Trotzdem schreibt Moldenhauer erstaunt:

Wenn man nicht wüßte, daß Krieg ist, dann würden wir hier denken, wir befinden uns auf einer Übung. Einen wunderbaren Aufbauplatz haben wir diesmal. In einem schönen Tannenwald. Hier und dort einige Lichtungen, die mit saftigem Gras und wunderbaren Bäumen bewachsen sind. Auf einer solchen Lichtung ahlen wir uns den ganzen Tag.

In der Ukraine entwickelt sich nur noch selten etwas wie Urlaubsstimmung bei Moldenhauer. Zu unwirtlich und "ungemütlich" sind die allgemeinen infrastrukturellen, soziokulturellen und Versorgungsverhältnisse in diesem fremden Land, von einigen unerwarteten Möglichkeiten einmal abgesehen:

Heute morgen sind wir gemeinsam zum Baden gewesen. Eine bolschewistische Errungenschaft, die uns Lanzern jetzt zugute kommt. Es war eine Liebhaberei! Und anschließend bis Mittag noch einen kleinen Spaziergang. man lebt hier wie ein Rentier. [...] Heute abend gehen wir wieder ins Kino. Es gibt einen neuen Film.

Im Verlauf des Vormarsches durch die Ukraine wird der Feldzug von Moldenhauer nicht mehr als "Reise" assoziiert. Das Wort verschwindet auch zunehmend aus den Brieftexten. Die Situation von Wilhelm Moldenhauer war natürlich eine besondere. Mit seinem Funkwagen nahm er nicht direkt an Kampfeinsätzen teil, sondern war in der Regel hinter der Front stationiert, in der ruhigeren Etappe. Auch bot der Funkwagen nicht nur die Möglichkeit, am Informationsaustausch teilzunehmen oder entspannende Musik zu hören, sondern auch sich ab und an mit Lebensnotwendigem zu bevorraten, was bspw. einem Infanteristen nicht so möglich war.

Es ist wohl Moldenhauers "touristischer" Blick, der ihn Land Leute recht objektiv betrachten lässt, obwohl dies mit der NS-Ideologie, der er ja anhängt kollidieren müsste. Er ist auch ein passionierter Fotograf, macht viele Bilder. Doch die Fotos von der armen ukrainischen Bevölkerung sind niemals denunzierend aufgenommen, wie man es auch der NS-Propaganda kennt. Moldenhauer begegnet der sowjetischen Zivilbevölkerung größten Teils korrekt - soweit sich der Angehörige einer Eroberungsarmee korrekt benehmen kann. Immerhin müssen die Menschen ihre geringen Lebensmittel und ihren beschränkten Wohnraum z. T. mit ihm teilen oder ihm gar ganz überlassen. Er berichtet, wie ihm immer wieder Essen und Hilfsarbeiten angeboten werden und deutet dies ausschließlich als Geste der Gastfreundschaft und nie als eine der Angst vor den Besatzern. Er empfindet bisweilen Mitleid mit den Menschen, deren hartes Los sich durch den deutschen Überfall noch deutlich verschlechtert hat. Auf Befehl Hitlers mussten sich die deutschen Truppen fortan aus den besetzten Territorien selbst versorgen, so dass für die Zivilbevölkerung nur noch wenig übrig blieb. Der Krieg wurde zum alltäglichen Raubzug. Zwar wird nicht unbedingt das Vieh von den Soldaten requiriert und selbst geschlachtet, doch die Soldaten lassen sich von den Dorffrauen schon mal ein Huhn schlachten und rupfen und bedienen sich selbstverständlich aus den Vorräten der einheimischen Bevölkerung oder lassen sich die Mahlzeiten zubereiten.

Das Leiden der Zivilbevölkerung unter der deutschen Besatzung sah Moldenhauer bereits in Serbien recht klar: "Das deutsche Volk kann sich doch glücklich preisen, daß es so etwas im eigenen Land nicht erleben braucht." Ähnlich deutlich erkennt er die nach dem deutschen Überfall verübten Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten des Krieges gegen die Sowjetunion, formuliert sie aber auch wieder eher indirekt:

Was bringt dieser Krieg doch für Elend. Und wie dankbar können wir alle sein, daß sich dieser Krieg nicht in unserem Land abspielt. Wie dankbar muß das ganze deutsche Volk sein, daß ihm immer noch das tägliche Brot vom Staat gegeben werden kann.

Die Bevölkerung der Ukraine beschreibt Moldenhauer als arm und in elenden Verhältnissen lebend, als "Untermenschen" empfindet er sie allerdings nicht. Er hat Mitleid mit ihnen, wähnt sie als Opfer "jüdisch-bolschewistischer" Unterdrückung und Misswirtschaft, die nun auch noch den Krieg erdulden müssen. Die Ukrainer werden als einfache, genügsame und an sich gutmütige Menschen beschrieben, die für die zukünftige deutsche Herrschaft noch zu zivilisierend sind, damit die Gebiete wirtschaftlich effektiv betrieben werden können. Negative Erscheinungen werden der kommunistischen Unterdrückung angelastet. Dieser Kolonisierungsgedanke war nicht nur im Dritten Reich äußerst virulent. Er findet sich in der Bundesrepublik auch noch in vielen konservativen historiographischen Abhandlungen, vor allem aber in der weit verbreiteten westdeutschen Trivialliteratur der Nachkriegszeit. Generell betrachtet Moldenhauer den (Eroberungs)Krieg auch immer als Geschäft, schließlich ist er Kaufmann. Daher ist ihm eine effektive Bewirtschaftung der Gebiete der Sowjetunion wohl wichtiger, als die ideologisch determinierten Ziele der NS-Führung. Die NS-Pläne zur Ausrottung auch größerer Teile der slawischen Bevölkerung waren dem Briefeschreiber, wie fast allen Soldaten sicher unbekannt.

Nach Beendigung dieses Kampfes, wird die Ukraine ein dankbares Betätigungsfeld für deutsche Landwirte sein. Was sind das hier für ungeheure Flächen. Bei einer geringen Bevölkerungszahl. Und das Volk ist bescheiden in ihren Lebensansprüchen und arbeitet billig. Neulich standen wir mal in der Nähe einer Obstplantage. Die zu pachten wäre ein Ding für Deinen Bruder Hans! Ich werde ihm mal hinschreiben und auf das Betätigungsfeld hier im Osten aufmerksam machen.

Die Hoffnung auf einen privaten Kriegsgewinn z. B. in den "herrenlosen" Weiten des europäischen Ostens war nur ein, wenn auch ein sehr motivierender Grund, der die Interessen weiter Kreise der deutschen Bevölkerung mit den Plänen der NS-Staatsführung verband. Aber nur selten wurde er auch so deutlich formuliert wie von Moldenhauer. Angesichts der in Zukunft auszubeutenden Ländereien und der daraus zu erwartenden Erhöhung des Lebensstandards in Deutschland denkt er auch an eine Erweiterung des heimatlichen Geschäftesbetriebes. Somit ist verständlich, warum er durchaus ein gutes Verhältnis zur ukrainischen Zivilbevölkerung anstrebt - solange die Hierarchie gewahrt bleibt. Er ist an ihrem Alltagsleben und ihrer Kultur interessiert und versucht sogar, etwas Russisch zu lernen.

Jüdische Einwohner waren in den Siedlungen Ost- und Südosteuropas bis 1941 noch präsent. Moldenhauer nimmt sie überall wahr. In seinen Briefen findet sich ein manifester Antisemitismus. Allerdings kann der heutige Leser nicht mehr rekonstruieren, wieweit dies seiner Überzeugung entsprach, es eine allmähliche Übernahme der allgegenwärtigen NS-Propaganda und Hetze war oder ob manche Phrasen nur gedankenlos als einfache Erklärungen für Probleme der Gegenwart wiedergegeben wurden. Antisemitismus in vielen Facetten ist in Deutschland nicht erst seit 1933, aber seitdem übermächtig, ein Element des Alltags. In den nun wieder zu Deutschland gehörenden Gebieten gibt es Ghettos für die jüdische Bevölkerung. Wie es dort aussieht, will der sonst durchaus neugierige Moldenhauer jedoch offenbar nicht wissen. Allerdings erahnt er die Verhältnisse, deren Anblick ihm verboten und durch Mauern verstellt ist:

In den Städten beherrschten die Juden, mit ihren weißen Armbinden, das Straßenbild. Teilweise gibt es ganze Stadtviertel, die abgezäunt sind für die Juden. Das Betreten ist für die übrige Bevölkerung verboten. Die Gegend wo wir hier sind ist bestimmt furchtbar traurig.

Der passionierte Fotograf klagt im Brief vom 16. Juni 1941 lediglich darüber, dass es Schwierigkeiten beim Ablichten der jüdischen Einwohner gibt: "Die typischen Juden sind aber sehr scheu vor der Leica. Es war sehr schwer und mußte listig angefangen werden, wenn ich sie knipsen wollte." Die "Judenfrage" spielt in den während des Balkan-Einsatzes geschriebenen Briefen hauptsächlich im Zusammenhang mit aktuellen politischen Entwicklungen eine Rolle. Genau wie die gleichgeschaltete Presse des Dritten Reiches sieht der Verfasser sie z. B. in Rumänien und Jugoslawien als Hintermänner und Drahtzieher von Intrigen gegen Deutschland und seine Verbündeten.

Es hatte [in Rumänien - J.E.] zwischen den Legionären und dem Militär, auch das Militär war in sich durch die Juden gespalten, Straßenkämpfe in einigen Großstädten stattgefunden, wobei es viele Tote (etwa 130) gegeben hat.
Im bulgarischen Volk hat sich der Jude mit seiner Propaganda nicht durchsetzen können. Dagegen ist es den Herren in Jugoslawien nun doch gelungen, ihre Mächte auf Regierung und Heer zu übertragen.

Direkten Kontakt mit Juden hat der Briefeschreiber aber offenbar nicht und seine Berichte über antisemitische Aversionen und einige angesichts des Holocaust vergleichsweise harmlose Tätlichkeiten gegen Juden in den verschiedenen Orten seiner Stationierung sind knapp und ohne größere Emotionen formuliert. Als distanzierter Beobachter im Hafen von Constanta berichtet er über die Flucht von rumänischen Juden mit einem Schiff. Dass dieses "schäbig" ist, vergisst er nicht zu betonen, aber dies ist auch ein Stereotyp, bekannt aus vielen NS-Zeitungen. Die fluchtartige Ausreise der Juden nach Palästina, scheint ihn zu befriedigen. Die Vernichtungspläne des Dritten Reiches spielen in den Briefen keine Rolle, wenn er auch die von der NS-Propaganda gebetsmühlenhaft behauptete Verquickung der Juden in der Sowjetunion mit dem "Bolschewismus" vollständig verinnerlicht zu haben scheint. In der Ukraine sind Unterdrückung und Verbrechen vor dem deutschen Einmarsch Werk von bolschewistischen Juden, die es nun durch die deutschen "Befreier" zu bestrafen gilt. Nie allerdings berichtet er über Mordaktionen gegen Juden, die es in der Ukraine massenhaft, häufig unter Teilnahme von Wehrmachtsangehörigen, gegeben hat. So wurden z. B. in Belaja Zerkow Ende August 1941 ca. 90 jüdische Kinder erschossen, deren Eltern zuvor deportiert wurden. Moldenhauer datiert seinen Aufenthalt in diesem Ort mit dem 17. Juli. Des öfteren hält er sich kurz vorher oder nachher in Orten auf, von denen wir zumindest heute genau wissen, dass dort Verbrechen von deutscher Seite verübt wurden.

Mit zunehmender Härte der militärischen Auseinandersetzungen, die sich auch immer mehr in die Länge ziehen, geraten Überlegungen und Reflexionen zu den Juden aus dem Blickfeld. Die deutschen Soldaten haben nun genug mit dem eigenen Überleben zu tun. Ab Oktober 1941 tauchen Wörter wie Jude oder jüdisch in den Briefen nicht mehr auf.

Vor Stalingrad, der letzten Station seiner "Reise", bemüht sich der Briefeschreiber verstärkt, wieder Erholungsurlaub zu bekommen, eventuell alternativ dazu auch Arbeitsurlaub, um wichtige geschäftliche Dinge zu erledigen. Indirekt und vielleicht auch unbewusst spiegelt sich hier, wie deutlich ihm die immer gefährlicher werdende Situation zu sein scheint. Trotz enormer Bombardierungen der Stadt durch deutsche Bomber, verteidigt die Rote Armee, die sich in den vergangenen Monaten stets nur zurückgezogen hatte, nun mit aller Härte die Stadt, getreu dem Befehl Stalins "Keinen Schritt zurück". Die Wehrmacht sieht sich einem unerwartet erstarktem Gegner gegenüber. Während die deutschen Truppen durch den schnellen Vormarsch ermüdet sind, der Nachschub wegen der langen Distanzen immer unregelmäßiger wird und sich die Einheiten im blutigen Straßenkampf zerreiben, führt die Rote Armee aus Sibirien frische und kampfstarke neue Verbände heran. Das Blatt hat sich gewendet. Der letzte Brief Moldenhauers aus dem Stalingrader Kessel ist mit dem 4. Januar 1943 datiert. Seither galt er als vermisst.